„Die unsinnigen Russland-Sanktionen müssen weg“
„Die unsinnigen Russland-Sanktionen müssen weg“
Gerhard Schröder spricht über Lehren aus der Befreiung 1945, nötige Schritte in der Coronavirus-Krise, seine Russland-Kontakte und die SPD-Kanzlerkandidatur
Gerhard Schröder (76) war von 1998 bis 2005 der dritte sozialdemokratische Bundeskanzler.
Herr Schröder, als im Mai vor 75 Jahren der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, hatten 25 Millionen sowjetische Soldaten und Zivilisten ihr Leben verloren. Welche Verpflichtung gegenüber Russland erwächst aus der deutschen Kriegsschuld?
Es geht nicht um Schuld. Es geht um Verantwortung für die ganze deutsche Geschichte. Dazu gehört, die Erinnerung wachzuhalten. Die Kraft, für ein „Nie wieder“ zu kämpfen, kommt aus dem Wissen um das, was war. Das gilt in besonderer Weise für den Holocaust und für von den Nationalsozialisten vom Zaun gebrochenen Krieg. Wir müssen uns immer wieder bewusst machen, dass dieser Krieg auch der Versuch war, die Völker in der damaligen Sowjetunion auszurotten oder zu versklaven. Es war ein grausamer Vernichtungsfeldzug mit dem Ziel, Russland von der weltpolitischen Bühne verschwinden zu lassen. Das dürfen wir nie vergessen – und dem muss die deutsche Russland-Politik stärker Rechnung tragen als dies gegenwärtig der Fall ist.
Wie?
Dass man in Russland trotz dieser schrecklichen Vergangenheit bereit ist, mit dem neuen Deutschland vertrauensvoll zusammen zu arbeiten, können wir gar nicht hoch genug schätzen. Dazu passt nicht, dass wir die Sanktionen gegen Russland weiter unterstützen. Zum einen rufen sie in Russland historische Erinnerungen wach und zum anderen verändern sie die russische Politik nicht. Gerade jetzt, wo wegen der Coronakrise wirtschaftlich schwere Zeiten auf uns zukommen, brauchen wir mehr Zusammenarbeit. Deshalb müssen unsinnige Sanktionen weg.
Was Sie als unsinnig bezeichnen, ist die Antwort Europas auf die völkerrechtswidrige Annexion der Krim.
Es ist aber die falsche Antwort. Wer glaubt, man könnte Russland mit Sanktionen zu irgendetwas zwingen, der irrt. Kein russischer Präsident wird die Krim jemals an die Ukraine zurückgeben. Das ist die Realität.
Kann sich Russland alles erlauben?
Was heißt hier erlauben? Europa hat zu vernünftigen Beziehungen zu Russland keine Alternative. Russland kann sich auch einseitig nach China hin entwickeln. Das kann Europa nicht wollen und das kann Deutschland nicht wollen. Wir brauchen Russland, um die großen internationalen Fragen zu lösen, wir brauchen die Energie und den Markt. Alle in Europa bemühen sich jetzt, die Wirtschaft in der Corona-Krise wieder in Gang zu bringen. In einer solchen Situation sind Sanktionen nicht zeitgemäß.
Tagesspiegel
Fortsetzung folgt